Erster Tag

 

Freitag, 11.08.1995
Nach den zwei Stunden Pennen im Auto kurz hinter Garmisch sind wir wieder recht ausgeruht, um die letzten 200 Kilometer bis Sulden zu, fahren.
Ich bin gestern Abend mit dem Zug nach Chemnitz gekommen und nach einem fürstlichen Abendessen in einem Lokal in der Nähe von Mikes Wohnung ging es gegen 23 Uhr los.
Die Eisausrüstung haben wir uns kurzfristig nach unserem letzten Meeting im Juli zusammen ge­kauft, Schnüre, Karabiner, Pickel, Steigeisen, Kombigurt etc.
Und beim Betrachten der Bilder in den Prospekten, auf denen unsere Tour recht gut zu sehen ist stellte sich bei mir schon ein arges Kribbeln ein.
Zum ersten Mal auf dem Gletscher...
Für Mike ist nach seinem Kurs im Juni nun kein Berg mehr zu hoch und keine Wand zu steil.
Na mal sehen.
Grenze zu Österreich, Imst, Landeck, Nauders, Reschenpaß, Italien, Südtirol...
Und dann sehen wir die hohen Gipfel 50 Kilometer entfernt im Süden vor uns, Ortler, Königsspit­ze, Cevedale...
Hoch und weiß und darüber eine Wolkenfront, die nicht sehr gut aussieht.
Aber das soll uns bei diesem Anblick nicht verdrießen.
Nach einem kurzen Fotostopp am Reschenstausee sind wir ca. 10 Uhr in Sulden.
Umgezogen haben wir uns schon vorher, so daß wir in unserer "Profi"-Kluft ziemlich auffällig inmitten der Touris stehen.
Als alles in den Rucksäcken, die wieder einmal viel zu schwer sind, verstaut ist, schleichen wir zur Talstation der Seilbahn. Sulden liegt bereits 1900 Meter hoch, jedoch die Schaubachhütte, unser heutiges Übernachtungsziel, liegt auf 2580 Metern und wir wollen uns den Fußweg hinauf nicht zumuten.
Es kommt sicher noch einiges in den nächsten Tagen, so daß wir uns lieber schonen.
Das Dreigestirn Ortler, Monte Zebru, Königsspitze sieht von hier gar nicht mehr so gewaltig aus, wir sind ja auch bereits recht hoch.
Vom Etschtal unten ist der Höhenunterschied von 3000 Metern bis zum Ortlergipfel nur mit westalpinen Maßstäben zu sehen. Die weite Vergletscherung in diesem Alpenwinkel ist beeindruckend.
Steil zieht sich der Suldenferner am Talende hinauf zur Suldenspitze, hinter welcher der Ceveda­le jetzt verborgen liegt, noch steiler fällt der Königswandferner in wilden, Eisbrüchen herab.
Und dort, immer am Rand der Spaltenzonen entlang zieht sich die Spur über den Eisseepaß zur Casatihütte.
In der Schaubachhütte bekommen wir mit unseren DAV-Ausweisen sofort die Lager und haben nun viel Zeit am Nachmittag.
Da das Wetter gut ist, beschließen wir, unsere Übungsstunde mit Seil und Haken erst am Abend zu machen und statt dessen als Eingehtour die Hintere Schöntaufspitze übers Madritschjoch zu besteigen.
Als Akklimatisation für die nächsten zwei Tage ist das Gold wert. Viertel eins brechen wir auf.
Der Weg oder vielmehr die Autobahn zieht sich durch das vergewaltigte Madritschtal mit seinen Liftanlagen, von Messner ausgesetzten Yaks und den Tourimassen bis zum Madritschjoch.
Wir spüren zwar die fehlende Kondition, trotzdem kommen wir gut vorwärts.
Rast auf 3000 Metern.
Mike läßt sich ein wenig über den Seniorendreitausender aus, aber schön ist der Menschenan­drang auf diesen Berg wirklich nicht. Und der Blick hinüber zu den drei Großen ist immer wieder überwältigend.
Madritschjoch (3123), die Menschen werden weniger, jetzt wird auch der Anstieg zum Gipfel schöner. Und ca. 15.15 Uhr ist Gipfeltime.
3325 Meter, der erste Dreitausender 1995.
Seltsam, daß solch ein Gipfel noch im letzten Jahr die Krönung einer Bergtour gewesen wäre.
Heute jedoch glänzen die Gletscher und die Gipfel von Cevedale und Zufallsspitzen im Süden über den Gebirgsgrat.
Unheimlich hoch sehen sie aus, unheimlich hoch, ohne Eisausrüstung auch unmöglich.
Nordwestlich im Sattel auf der weiten Gletscherfläche die Casatihütte, nördlich die nur 100 Meter höhere Suldenspitze.
Im Südosten die drei vergletscherten Veneziaspitzen, im Norden Laaser Spitze, Vertainspitze (3544), Hoher Angelus (3528).
Und im Westen Königsspitze (3852), Monte Zebru (3740) und Ortler (3902), ein herrliches Panorama.
Die ungewohnte Höhe und auch die Müdigkeit macht sich bei mir langsam in Kopfschmerzen bemerkbar. Auch das Wetter schlägt um. Dichte dunkle Wolken drängen an der Königsspitze herein und wir brechen schleunigst talwärts auf.
So kommen wir nur noch recht kurz in den Genuß des einsetzenden Regens und sitzen bald dar­auf wieder in der Schaubachhütte im Trockenen.
Das Haus füllt sich mit Übernachtungsgästen, nach dem Abendessen, das Wetter ist jetzt ober­ mies, verheißt auch der Wetterbericht nur wenig Besserung. Die Gipfel in grauen Regenwolken. Wie Fuorcla Surlej 1993.
Statt der Übungsstunde laufen wir noch ein Stück, um den morgigen Gletschereinstieg zu finden.
Um neun ist dann endlich wohlverdiente Nachtruhe. Zum Anfang ein Dreitausender, nicht schlecht.