Sonntag, 13.08.1995
6 Uhr weckt uns das penetrante Piepsen von Mikes Weckeruhr.
Gräßlich, kann man nicht noch ein wenig liegenbleiben?!
Der Blick aus dem Fenster zeigt auch grau, wir haben nachts das ständige Geräusch von Tropfen auf dem Blechdach gehört, also..
Noch ein Blick aus dem Fenster, bis Mike feststellt, daß der Himmel wolkenfrei ist (!!!) und das Tropfengeräusch wohl eine andere Ursache haben muß.
Nun gibt es wirklich keinen Grund mehr, im Schlafsack zu bleiben
Gegenüber der Terrasse unten präsentieren sich im kalten Morgenlicht, am offenen Fenster wa­ren es 4°C, hier werden es um die 0°C sein, die Firngipfel von Cevedale und Zufallsspitze, und im Osten, wo Wolken und Berggipfel einen pfundigen Anblick bieten, geht gleich die Sonne auf. Jubel!!!
Nun noch ein schnelles Frühstück und dann nichts wie los.
Diesen Gedanken haben aber noch zahlreiche andere und so befinden wir uns mit unzähligen Seilschaften 7 Uhr in der Spur zum Cevedale.
Es geht sanft aufwärts, nur wenige Spalten zeigen sich, wieder Wolken, die sich jedoch bald auf­ lösen, und vor uns ameisengleich die Menschenkarawane auf dem Weg zum Gipfel.
Die Ersten sind schon oben.
Rechts der Monte Pasquale, im Norden unsere großen Drei.
Kurz vor der Zufallspitze auf dem weiten Gletscherplateau trennen sich die Spuren, viele gehen über den Nordwestgrat auf die Zufallspitze und dann zum Cevedale, ebenso viele direkt zum Cevedale. Und Mike ist scheinbar begeistert vom Gratweg, der mir jedoch wiederum einige Num­ mern zu groß und gefährlich erscheint.
Wir stehen also und diskutieren.
Aber was soll Mike mit einem Seilpartner, der mit schlotternden Knien über diesen Grat wackeln würde. Also gibt er nach.
Tut mir leid, doch das ist wirklich nichts für mich, da habe ich viel zu viel Schiß.
Weiter zum Cevedale.
Auf ca. 3500 Metern, der Höhenmesser hat seine erste Runde vollendet, schwingt sich die Spur durch die nun steiler werdende Nordwestflanke hinauf zum Grat zwischen den beiden Gipfeln.
Wir sehen wie von Schritt zu Schritt der Monte Pasquale immer weiter unter uns zurückbleibt und schließlich stehen wir nach Überquerung der Randkluft oben auf dem Verbindungsgrat zwischen Cevedale und Zufallsspitze auf 3700 Metern. Ohne immer dieselben Begriffe wie wunderschön und herrlich strapazieren zu wollen, muß ich wieder feststellen, daß der weitere Weg über den feingeschwungenen schmalen Firngrat hinauf zum Gipfel alles bisher Gesehene und Erlebte auf dieser Tour in den Schatten stellt.
Das ist bilderbuchmäßig.
Und auch Mike ist hoffentlich begeistert.
09.15 Uhr stehen wir oben.
Monte Cevedale (3769 nach ital. Messung, 3778 nach dt. Messung), die erste Gletschertour und gleich solch ein Gipfel. Wenn das kein Anreiz für die Zukunft ist...
Auch die Rundschau ist Spitze, im Süden Presanella, Adamello, Monte Vioz, Pallon della Mare, im Osten Brenta und Dolomiten im Norden Zufallspitze und Ötztaler Alpen mit Wildspitze, Kreuz­spitze, Finailspitze und Weißkugel, im Nordwesten Ortler, Zebru, Königsspitze und verborgen hin­ter dichten Wolken die Bernina und im Westen Berge, die wir nicht kennen.
Nach der Gipfelrast steigen wir wieder bis zum Sattel ab und Mike geht allein hinüber zur Zu­fallsspitze. Ich warte und fotografiere indessen ausgiebig.
Bis zur Casatihütte hinab geht es nun recht rasch, dort ruhen wir uns noch einmal aus und essen Mittag, dann hieven wir unsere superschweren Rucksäcke auf den Rücken und gehen an den Abstieg zur Seilbahnstation an der Schaubachhütte.
Der Steig zur Janninger-Scharte ist wieder sehr kribbelig, doch mein Alptraum Blankeisfeld ist leichter als erwartet, mit den Steigeisen eigentlich kein Problem.
Wieder intensiver Steinschlag über uns in der Suldenspitzennordostwand dann das steilste Stück des heutigen Tages im aufgeweichten Firn und da komme ich doch tatsächlich ins Rutschen und lege mich hin.
Zwar gelingt es mir, mich sofort auf den Bauch zu drehen und anzuhalten, aber die Spalte unter uns löst in mir eine kleine Panik aus, so daß ich die letzten Meter mit dem Gesicht zum Hang abwärts schleiche. Fehlende Erfahrung... und ein Rucksack, der mich zusätzlich nach unten drückte.
Bis zum Gletscherausstieg kurz oberhalb der Schaubachhütte beginnt es intensiv zu regnen, so daß wir völlig durchnäßt und fertig an der Seilbahn ankommen.
Es ist halb drei.
In Sulden finden wir rasch eine Unterkunft in einer Pension, vielleicht wollen wir morgen hoch mal vom Stilfser Joch hinauf auf die Geisterspitze.
Das Zimmer (70 DM pro Nase) hat eine Dusche, herrlich (!I!) und sieht bald darauf aus wie eine Rumpelkammer mit nassen stinkenden Klamotten. Aber das stört uns jetzt nicht mehr.
Nach dem Abendessen sind wir schon vom Viertel Roten, dem Bier und dem Obstler ein klein wenig angeschnickert und gehen noch eine kleine Runde in den abendlichen Ort.
Hoch über allem unsere Berge, selbst die Suldenspitze, die vom Cevedale kaum zu erkennen war, ist von hier unten wieder riesig.
Das war ein Tag heute.
Und der Pensionsvater fragte uns, ob wir vom Ortler kommen, so professionell (oder geschafft?) sahen wir wahrscheinlich aus.
Aber der Cevedale reicht.
Schade, daß dieser schöne Berg nun schon Vergangenheit ist.
Und mal sehen, ob Mike noch Bedarf hat, mit mir Angsthasen in die Berge zu fahren.

Montag, 14.08.1995
Heute morgen dasselbe Schmuddelwetter wie gestern nachmittag und das wird auch nicht besser, als sich das Auto über die 48 Serpentinen zum Stilfser Joch empor quält.
Im Gegenteil, es wird noch schlechter. Also nix mit Geisterspitze.
Via Schweiz fahren wir nun also talwärts zum Reschenpaß, vor Landeck haben wir eine Stunde Stau, dann ist es nach weiteren Verkehrsstockungen 15 Uhr, ehe wir in Garmisch sind, 16 Uhr München,
Abendbrot 19 Uhr in einem Nest bei Bayreuth und 21.45 Uhr stehen wir auf dem Chemnitzer Hbf.
Aber der letzte Zug nach Leipzig ist vor 7 Minuten abgefahren.
Sch...
So penne ich bis 3.30 Uhr bei Mike und fahre 4.30 Uhr mit dem ersten Frühzug nach Hause.
Und 8.30 beginnt mein Arbeitstag.