Zweiter Tag

 

Sonnabend, 12.08.1995
Heute morgen ist das Wetter immer noch nicht besser, aber wir nutzen gleich einigen anderen nach dem Frühstück eine Regenpause, um doch zum Gletscher aufzubrechen.
Und bei mir setzt das große Kribbeln ein, der Suldenferner sieht gar zu steil aus. Obwohl die steilsten Stellen nur einiges mehr als 35° zu bieten haben.
Die Spur da oben ist gut sichtbar, während wir über die Moräne dem Eis entgegen steigen.
Und während Mike mir zeigt, wie man sich ins Seil bindet und wir Gurte und Steigeisen anlegen, kommen bereits einige Seilschaften über Firn und Eis von der Casatihütte herab.
Und dann stehen wir auf dem Eis. Ein völlig neues und ungewohntes Gefühl, auf dem vom Regen blank gewaschenen Eis zu stehen und nicht zu rutschen.
Mit einigen Fotopausen geht es nun auf dem hier noch spaltenfreien Suldenferner aufwärts. Wir gewinnen rasch an Höhe.
Das Wetter wird etwas stabiler, ab und zu reißen die Wolken auf, es regnet nicht mehr und unter uns bieten das Suldental und die Schaubachhütte einen schönen Anblick.
Dann unterhalb des Eisseepasses die ersten Spalten. Wir laufen zwischen ihnen entlang und müssen über einige hinüber steigen.
Zum ersten Eiserlebnis gesellt sich nun noch das Gefühl, auf einem völlig neuen, etwas unheimli­chen Medium zu stehen.
Die vielleicht 20 - 30 Meter tiefen Spalten lassen im Finsteren unten den Boden nicht erkennen.
Wer da hineinfällt...
Und ich überlege mir schon, ob Mike, das Fliegengewicht, meinen Sturz auffangen könnte. Der Übergang über den Eisseepaß sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus, steil und rutschig über Geröll hinauf in die Scharte.
Nach kurzer Diskussion queren wir zurück über den Suldenferner zur Spur über den steilen Firn in die Janninger-Scharte unterhalb der Suldenspitze.
Es wechseln steilere und sanfte Abschnitte und kurz unterhalb der Scharte lauert noch ein abschüssiges Blankeisfeld.
Von der Nordostwand der Suldenspitze kracht Steinschlag, aber die Spur führt in respektvollem Anstand daran vorbei, so daß aus dieser Richtung wohl keine Gefahr entstehen kann.
Auch jetzt, um die Mittagszeit, kommen uns einige Seilschaften entgegen und die Angst von manchen auf dem Blankeis hier oben tröstet mich.
Also bin ich nicht der Einzige, der weiche Knie bekommen hat.
Von der Scharte abwärts geht ein sehr sehr schmaler abschüssiger Steig über Eis und Schutt zum Zufallferner hinab und an dessen Rand führt uns eine breite Hauptspur hinüber zur bald sichtbaren Casatihütte.
Viertel drei kommen wir an und auch hier bekommen wir mit unseren Ausweisen sofort ein 2-Mann-Zimmer für 18000 Lire pro Nase.
Da das Wetter sich hält, auch wenn die Sicht nicht umwerfend ist, gehen wir noch zum nahen Gipfel der Suldenspitze (3376), auf dem wir ca. 16 Uhr stehen. Von der Hüfte eine halbe Stunde Aufstieg mit Pickel, ich sicherheitshalber mit Steigeisen. Und obwohl sich der Cevedale bedeckt hält, haben wir von oben noch eine schöne Aussicht auf die massigen Wolken und Berge ringsum.
Jeden Tag ein Dreitausender, bin gespannt, ob sich das morgen fortsetzt. Am Abend sitzen wir im Gastraum, dann geht's zeitig in die Koje, wir wollen morgen früh 6 Uhr aufstehen.
Aber ehe wir zum Schlafen kommen, vergeht einige Zeit, die Wände sind sehr dünn und auch die Spannung vor dem morgigen Tag hält uns noch wach. So hoch haben wir in den Alpen noch nie übernachtet, 3250 Meter!
Und einen so hohen Berg wie morgen haben wir in den Alpen auch noch nie erstiegen.