Freitag, 01.Juli 1994


Heute morgen bin ich froh, daß die Nacht vorüber ist, der Luftmangel und der Schnupfen waren wirklich äußerst lästig und ließen mich kaum schlafen.
Und dann wohl wieder diese innere Spannung. Aber alles i.O., Kopfschmerzen weg, Schnupfen weg, Hunger da...
Nur Michael ist am Ende, er bleibt hier und wird nachher mit zwei Höhenkranken von der Kibohütte ins Tal gebracht.
Anne ist wieder auf den Beinen, jetzt fängt Johannes an mit Magen- und Darmbeschwerden.
Eigenartig, wie sich auch unsere Gesprächsthemen situationsbedingt immer wieder gesundheitliche Befinden beschränken. Jeder horcht in sich hinein.
Wir anderen übergeben unsere großen Rucksäcke wieder den Trägern, die voraus gehen, und beginnen um neun den Marsch hinauf zur Kibohütte.
Der Tag gestern war Gold wert.
Wir spüren derzeit überhaupt keine Höhenkrankheitssymptome mehr, nur unser Tempo ist jetzt so angepaßt, daß wir nach jedem Schritt einen tiefen Atemzug nehmen müssen.
Schritt, Atmen, Schritt, Atmen...
Das Wetter ist herrlich, hinter Riesensenecien im Vordergrund baut sich der Eisgipfel des Kibo auf.
Noch 1900 Höhenmeter!
Aber die große Entscheidung wird an der Kibohütte erst heute nacht fallen.
Pole, pole, langsam. Langsam gewinnen wir an Höhe, die Heide wird spärlicher, last water auf 4100 Metern, nach der Rast wo wir die estnische Expedition von der Horombohüttein der prallen Hochgebirgssonne mit freien (!) Oberkörpern wieder treffen, noch ein etwas steilerer Anstieg und plötzlich stehen wir auf einer Bodenwelle und sehen den breiten Weg, der jetzt quer durch die Wüste führt.
4200 Meter, noch 500 Höhenmeter zur Hütte und immer noch keine Beschwerden.
Von unserer Spitzenkondition gar nicht zu reden. Wir könnten noch Kilometer (Zitat Konrad) laufen.
Der Kibo ist nun wolkenverhangen und auch auf unserem nun folgenden Anstieg durch die öde Staub- und Steinlandschaft wird es gespenstisch düster, als die Wolkenfetzen direkt über den Sattel rollen und wehen.
Es wird kalt, wir holen unsere warmen Fleecepullover, Stirnbänder und Mützen heraus.
Und immer wieder filmen und fotografieren wir.
Das dritte Extrem der Landschaften am Kilimanjaro.
Unsere Schritte werden langsamer, jetzt können wir gar nicht mehr weit über uns in der felsigen und nebligen Einöde das Dach der Kibohütte sehen. Wieder Rast und danach der letzte steilere Aufstieg.
Schritt, Atmen, Schritt, Atmen...
Aber nun hilft das bei niemandem mehr.
Alle kämpfen wir uns jetzt mühsam im Schleichtempo zum Tagesziel.
Leichtfüßig kommen uns Leute entgegen, die oben waren, aber uns interessiert das im Augenblick überhaupt nicht.
Wir sind mit uns und unserer Atemtechnik beschäftigt.
Fünf Stunden nach unserem Aufbruch an der Horombo stehen wir vor der Tür der Kibohütte.
4750 Meter, wenn das nichts ist, den Höhenmesser befrage ich schon gar nicht mehr, der zeigt sowieso "nur" bis 4500 korrekt an.
Doch Helgas Gerät zeigt noch die exakte Zahl.
Die Hütte ist urig, mit 12-Doppelstockbett-Räumen und Speiseraum.
Und ein Eisschrank, wie wir auch schon in den zahlreichen Reiseberichten lesen konnten..
Drinnen sind es zehn Grad, draußen 2°C.
Und die Wolken wehen.
Jeder verschwindet erst einmal, so schnell es geht, im Schlafsack, um sich aufzuwärmen und den Kreislauf wieder zu beruhigen.
Die Kopfschmerzen sind schlimmer als je zuvor auf diesem Berg, selbst Christoph ist davon befallen. Aber wir erhoffen uns noch einiges von der Wirkung seiner Coca-Blätter aus Ecuador.
So vergehen einige Stunden in Ruhe, die meisten versuchen zu schlafen, aber die dünne Höhenluft läßt das nicht zu.
Irgendwann gibt es wieder ein pfundiges Abendbrot, welches wir in die Daunenjacken eingemummt, gerade noch essen können.
Und zum Tagesabschluß bietet uns der Mawenzi hinter den aufreißenden Wolken einen wunderbaren Anblick. Trinken, trinken, Tee mit Milch und Coca-Blättern. Einige meinen, eine Wirkung zu spüren, aber den meisten geht es wie uns, wir merken nichts. Tief atmen, das hilft.
Und kalt und immer kälter wird es draußen 0°C und Schneegriesel.
Sommerurlaub in Afrika.
Nur noch 61 Meter fehlen uns zur Mont-Blanc-Höhe. Frederick hat vorhin erzählt, daß er schon 100mal auf dem Kibo war und schon siebenmal Weihnachten dort oben gefeiert hat.
Die fahrbare Trage neben der Trägerhütte gibt uns übrigens sehr zu denken. Mit diesem Gefährt wollen wir nicht hinunter gebracht werden. Da ist es bei dem Weg sicher noch besser, zu laufen, so schlecht es einem auch gehen mag.
Aber langsam geht es uns wieder besser, die Stimmung bessert sich ebenfalls und die Spannung und das Kribbeln nehmen zu.
Der untere sichtbare Aufstiegsabschnitt ist zwar nicht sehr steil, aber in dieser Höhe eine Strapaze, die wir uns in Augenblick nicht zumuten wollen und können. Noch ein paar Stunden Ruhe werden es zeigen.
Halb acht liegen wir wieder in den Schlafsäcken. Es ist stockfinster.
Tief atmen...
Es gibt wohl keinen von uns, der jetzt schlafen kann. Das verraten die Geräusche in der Dunkelheit, das Rascheln der Schlafsäcke, die ungleichmäßigen Atemzüge, nein, jetzt schnarcht sogar jemand.
Aber das ist nur von kurzer Dauer.
Tief atmen, Puls zählen...
Puls in der Ruhelage: 112.
Kein Wunder, denn der Sauerstoffgehalt in der Luft beträgt hier nur noch ca. 50% gegenüber dem Wert auf Meereshöhe.
4750 Meter, Puls 112...
Schlafen ist fast unmöglich, nach einigen Minuten wacht man unwillkürlich wieder auf und lauscht in sich hinein.
Ist es denn nicht bald um zwölf?!
Der fluoreszierende große Zeiger meiner Uhr kriecht langsam seine Runden, ich muß wahrhaftig zwei Stunden fast geschlafen haben, es ist auf einmal um elf.
Nur noch eine Stunde, es kribbelt.
Was wird werden?!
Viertel zwölf, bald ist es soweit...
Dann plötzlich Schritte und Stimmen auf dem Gang.
Die Esten werden geweckt.
Ich muß nochmal eingeduselt sein, jetzt ist es 0.05 Uhr.
Aufstehen!!!