Mittwoch, 29.Juni 1994

Nach einer gut verbrachten Nacht und einem English Breakfast mit Toast, Jam, Tea, wir trinken kannenweise Tee, Porridge, einem grießbreiähnlichen Gericht, Rühreiern in viel Fett gebraten und Avocado haben wir unser nicht am Mann bzw. Frau benötigtes Gepäck verschnürt und den Trägern gegeben, die sich schon an den Aufstieg machen.
Es ist eine wunderbare Morgenstimmung, die Sonnenstrahlen fallen noch schräg in die Bäume und erzeugen reizvolle Licht- und Schattenspiele in den von der Küchenhütte aufsteigenden Rauchschwaden. Es ist kühl, die Luft ist klar.
Tief unten sehen wir wieder den Lake Chala, fast kreisrund und weit entfernt.
Allmählich sind auch alle anderen Bergwanderer bergauf verschwunden, wir werden sie aber sicher an der Horombo Hut wiedersehen.
Ein Süddeutscher saß gestern abend an unserem Tisch. Er will in drei Tagen hinauf zum Gipfel ohne Akklimatisationstag "Pole pole", das ist nichts für uns. Den Afrikazeitverlangsamungsfaktor dazu berechnet brechen wir dreiviertel neun auf und tauchen wieder in den Schatten des Regenwaldes ein. Es ist ein eigenartiger Gedanke, wir bewegen uns in unserer Winzigkeit als Mensch wie eine Mikrobe auf einem riesigen schlafenden Tier vorwärts. Dieser Vergleich trifft hier an den Hängen des Kilimanjaromassivs noch viel eher zu als auf dem Teide.
Der Pfad ist ausgetreten und führt recht steil aufwärts. Aber unser Schritt ist langsam, gemächlich fast und wir kommen so nie außer Atem und in den ständigen Genuß der Landschaft.
Zudem gewinnen wir kontinuierlich an Höhe.
Bis mit einem Schlag Licht durch die Bäume fällt und wir unvermutet am oberen Waldrand stehen.
Grelles Sonnenlicht empfängt uns am Übergang zur Heidelandhöhenstute, der nächsten Vegetationszone am Kilimanjaro.
Das ist ebenfalls eine Besonderheit diese Berges, der abrupte Wechsel von einer Vegetationszone zur nächsten, von den Tropen zu den Eisfeldern der Arktis. Und im Nordwesten erhebt sich gar nicht eindrucksvoll, aber immer noch unendlich weit weg die Eiskappe des Kibo vor dem Hintergrund des. tiefblauen Afrikahimmels.
Und es sind immer noch fast 3000 Höhenmeter bis da hinauf zu bewältigen.
Wir sind derzeit "nur" 3000 Meter hoch.
Rechts, genau vor uns, erhebt sich der zerklüftete Felsgipfel des Mawenzi, mit 5147 Metern der zweithöchste Gipfel des Kilimanjaromassivs.
Weit erstrecken sich die sanften Hänge der Heidelandschaft bis hinauf zum Seddle, der Wüstenlandschaft.
Weit ist der Weg noch, sehr weit.
Aber wir haben ja genug Zeit.Christoph gibt Erläuterungen, er hat ein unheimlich gutes Grundwissen, ich denke fast, es gibt keine Frage, die er nicht beantworten kann.
Das Kilimanjaromassiv besitzt drei Gipfel, im Westen den Shira (ca. 3950 m), ein in sich zusammengebrochener Berg, eine Caldera, den Kibo (5895 m), den höchsten Berg Afrikas, dessen letzter Ausbruch 750.000 Jahre zurückliegt und den Mawenzi, (5147 m), ein bereits stark erodierter Lavapfropfen.
Der Kilimanjaro ist der höchste, einzeln stehende Berg der Welt, er erhebt sich über 4600 Meter aus der Ebene. Infolge seiner Höhe fabriziert er natürlich auch sein eigenes Wetter, das heißt, ähnlich den Erscheinungen am Teide kommt es auch hier zum Stau der von Osten, vom Indischen Ozean heranziehenden feuchtwarmen Luftmassen und zur intensiven Wolkenbildung.
Aus diesem Grund war es uns leider nur kurz vergönnt, von unserem Hotel in Moshi einen Blick von unten auf den Bergriesen zu werfen.
Diese Wolkenzone begünstigt von 2000 bis 3500 Meter die Vegetation des Regenwaldes und der Heide- und Moorlandschaft und auch die darunter von 1000 bis 2000 Meter liegende Kulturlandstufe profitiert vom Wasserreichtum.
Ab 3500 Metern nimmt die jährliche Niederschlagsmenge rapide ab, auf 4000 Metern sind die letzten Wasserstellen zu finden, darüber befindet sich ein pflanzen- und tierarmes Hochplateau zwischen Kibo und Mawenzi, der Seddle.
Ab 5500 Metern beginnt die nivale Zone, die Zone des ewigen Schnees, des Schnees vom Kilimanjaro.
Da jedoch die Niederschlagsmenge in keiner Relation zum hohen Verdunstungsgrad durch die Äquatorsonne steht, sind die einmaligen Eisterrassen der Northern und Southern Icefields in starkem Rückgang begriffen.
Infolge der Höhe kann nachts das Thermometer bis auf -20°C fallen, tagsüber jedoch erwärmt sich die Luft auf 28°C.
Genug aber nun mit Zahlen und Fakten, wir setzen uns nach einer Foto- und Filmpause wieder pole pole in Bewegung und wandern weiter.
Erstaunlich ist allein schon die Tatsache, daß hier auf über 3000 Metern noch eine so reichhaltige Flora existiert, während in den Alpen auf vergleichbarer Höhe fast die Schneegrenze erreicht ist. Und auf der Höhe der Baumgrenze im Jotunheimen, auf 1000 Metern wachsen hier noch Kaffee und Bananen.
Auf 3400 Metern halten wir die nächste Siesta, wir liegen und sitzen über eine Stunde im Gras inmitten von Heidekraut, welches fast mannshoch ist und knipsen die Blumen und Kräuter.
Unsere Gruppe ist ein gut gemischtes Team, das sehen wir in diesen Tagen, tröstlich war schon zu Anfang auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol unser erstes Zusammentreffen, als jeder mit demselben Komplex, schwächstes Glied der Gruppe zu sein, ankam, und es ist von großem Vorteil für alle, daß kein ausgesprochen sportlicher Typ dabei ist, der eine Höchstleistung vollbringen will und ständig vornweg rast, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen.
Nur Herbert bildet eine kleine unrühmliche Ausnahme in dieser Beziehung, aber alle anderen sind in der Lage, den Weg und diese Tage als einmaliges Erlebnis zu schätzen.
Im Süden am Hang unter uns sehen wir einen Nebenkrater, den Kifinika, der eine Opferstätte der Chaggas ist.
Und immer noch weit weit weg der Kibo.
Der Mawenzi ist näher gerückt, zeitweise war er von Wolken verhangen, jetzt liegt Neuschnee in seinen Felsrinnen. Und sooo hoch erscheint er uns gar nicht mehr.
Auf dem weiteren Aufstieg erwartet uns noch eine Überraschung des heutigen Tages.
Wir erblicken die ersten Riesensenecien.
Bis heute ist es durch die Wissenschaft nicht geklärt, weshalb diese sonst knöchelhohen Gewächse in den Bergen Ostafrikas fast so groß wie Bäume sind. Aber selbst für uns Laien ist das ein sehr beeindruckendes Bild.
Besonders in den kleinen von Bächen gegrabenen Schluchten unterhalb des Mawenzi sind häufig Ansammlungen dieser Gewächse zu sehen, sie bilden kleine schattige Haine.
Dann verspüre ich plötzlich und unerwartet die ersten Kopfschmerzen. Ich sehe auf den Höhenmesser. 3600 Meter, das kann doch nicht wahr sein!
Am Teide haben wir auf Dreisieben noch nichts gespürt und hier zeigen sich diese verfluchten Höhenkrankheitssymptome schon auf dieser relativ geringen Höhe.
Ich beobachte die Anderen, doch niemandem scheint es genauso zu gehen.
Bloß nichts anmerken lassen und am Ende von Christoph wieder hinunter geschickt werden.
Aus der Traum vom großen Gipfelsieg, aus der Traum vom 5000er.
Mit stärker werdendem Pochen hinter der Stirn geht es weiter.
Doch, Micha aus Berlin ist spürbar langsamer und blasser geworden. Und Mike zieht ein ebenso verkniffenes Gesicht. Auch er kämpft mit seinem Traum und seinen Kopfschmerzen.
Aber das erfahre ich von ihm erst an der Horombo. Vierzehn Uhr erreichen wir endlich die Hütten die in genau demselben Finnhüttenstil wie die Mandara aufgebaut sind. Unsere Rucksäcke sind da, Quartier für die nächsten beiden Nächte haben wir wieder im Haupthaus und der Tea mit Popcorn steht auch sofort auf dem Tisch.
Und als Christoph fragt, wer die Höhe schon spüre, sind es zwei.
Mike und ich.
Doch zu unserer Erleichterung sieht Christoph das Ganze gelassen und tröstet uns mit dem Kommentar, daß das normal sei und sich spätestens morgen nach der Akklimatisationstour gegeben hätte.
Und der Hunger ist auch noch groß.
Den Nachmittag verbringen wir nun mit Umherstreifen in der näheren Umgebung der Hütten, wir sehen uns die Riesensenecienhaine aus allernächster Nähe an und sitzen noch ein wenig in der Sonne.
Und immer wieder lausche ich in mich hinein und warte auf das Abklingen der Kopfschmerzen.
Tief atmen, tief atmen, dann wird es etwas besser. Für den Moment wenigstens.
Dagi ist eisern, sie hat überhaupt keine Höhenprobleme.
Auch unser konsequentes Hometrainerfahren macht sich bezahlt.
Unsere Kondition ist noch kein bisschen angegriffen.
Es gibt wieder ein hervorragendes Abendessen, Mike hat sich mit seinen starken Kopfschmerzen in den Schlafsack gelegt, er mußte sogar eine Schmerztablette nehmen.
Wir sitzen noch eine Weile zusammen und erzählen uns haarsträubende Gruselrategeschichten und klönen.
Und wieder breitet sich ein klarer Sternenhimmel über uns, 2800 Meter unter uns blinken die Lichter von Moshi und auf den jetzt doch schon recht nahen Eisfeldern des Kibo verblassen die glutroten letzten Sonnenstrahlen dieses schönen Tages.