Sonnabend, 11.08.2001

Im Zug nach Chemnitz lese ich Beck Weathers Buch über seine Erfahrungen nach der Katastrophe am Everest 1996.
Ein sehr berührendes Buch, da es beide Seiten darstellt, sowohl seine persönliche Sicht als auch die Sicht seiner Frau und seiner Kinder.
Ein Buch, was mich darüber nachdenken läßt, wie ich selbst mit der Familie umgehe und wie weit ich mit dieser Bergtour die Verantwortung für meine Angehörigen strapaziere und vergesse.
Im Augenblick weiß ich nicht so recht, ob ich das wirklich so möchte.
Dann der Gedanke an das Wetter. Wird es die Besteigung von einem oder gar zwei Gipfeln ermöglichen?
Der Gedanke, dass ich mich über ein halbes Jahr lang intensiv fit gemacht habe und das vielleicht an widrigen Wetterumständen scheitern könnte.
Habe ich wirklich alle Dinge berücksichtigt, die man selbst beeinflussen kann???
Draußen wird es dunkel, Abendrot am.Horizont, ein warmer Sommerabend.
Die Zugfahrt erinnert mich an die Fahrten, die ich vor 15 Jahren regelmäßig nach Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) zum Studium unternahm. Der Zug ist fast leer.
Nur dass ich im Gegensatz zu damals jetzt mit einem vollen Rucksack unterwegs bin.
Unterwegs in die Berge, unterwegs zum Viertausender.

Viertel nach zehn kommt der Zug in Chemnitz an, der Bahnhof ist wie ausgestorben, Thomas aber ist da.
Herzliche Begrüßung, Vorfreude...
Wir packen mein Gepäck in den VW Polo, den Thomas vor dem Bahnhof geparkt hat, dann fahre ich das erste Stück. Die Autobahnen sind frei, zügig rollen wir auf der Vogtlandautobahn nach Hof, von dort auf der A9 bis Nürnberg und dann nach 2 1/2 Stunden wechseln wir kurz vor dem Autobahnkreuz Crailsheim, Thomas fährt nun weiter bis Lindau am Bodensee, wo wir halb vier eine mehrstündige Schlafpause einlegen.

Sonntag, 12.08.2001


Halb acht wachen wir auf, der Polo ist kein idealer Schlafplatz, das zeigen uns unsere schmerzenden Glieder.
Aber über dem Bodensee ist eine wunderbare Morgenstimmung. Bunte Heißluftballons sehen wir vor dem Hintergrund des schroff aufragenden Säntis im Süden, eine Menge Jogger sind am Ufer unterwegs.
Und nur wenige Wolken am Himmel! Weiter geht es durch Bregenz.
Um die Maut für die österreichische Autobahn zu sparen, nehmen wir die Bundesstraße in die Schweiz, Grenze, dort müssen wir wohl oder übel eine Vignette kaufen, dann endlich sind wir auf der Autobahn nach Chur.
Der Rhein ist hier nur noch ein wilder Gebirgsfluß, ringsum türmen sich die Berge der Glarner Alpen und des Rhätikons immer höher auf. Heidiland, ein touristisch schrecklich vermarkteter Ort, eine Raststätte, an der zu dieser Geschichte so gut wie alles als Souvenir käuflich ist. Dann Chur, die Mündung des Vorder- in den Hinterrhein und hier verlassen wir schließlich die Autobahn, um über die Alpenpässe in das Rhonetal zu kommen.
In Diesentis Wechsel, die kurvenreichen Paßstraßen sind mir zu unheimlich, Thomas als Erzgebirgler ist da ein wesentlich besserer Fahrer. Man kommt kaum vorwärts, aber mit mir am Lenkrad würden wir selbst bis heute abend nicht in Saas Fee sein.
Andermatt, ein auf einer Hochfläche liegender Touristenort, umringt von Bergen und hohen Pässen.
Danach der Furkapaß, die höchste Stelle, welche wir heute mit dem Fahl4eug erreichen, knapp 2500 Meter hoch gelegen, aussichtsreich ins Rhonetal. Und dann sind sie plötzlich da!
Zunächst die Großen des Berner Oberlandes, dann an der nächsten Kurve überraschend die des Wallis! Der Alphubel, Dom, Täschhorn, dort hinten spitzt das Matterhorn hervor, das Weißhorn...
Das Weißhorn...
Diese strahlende Pyramide ist so gewaltig, dass sie konkurrenzlos das weite heiße Tal beherrscht. Immer wieder geht der Blick diese Firngrate hinauf. Nie würden Dilettanten wie wir dort hinaufkommen, aber trotzdem wirkt ihre Schönheit auch auf uns unbeschreiblich.
Walserdörfer an der Route, jahrhundertealte Bauernhäuser aus schwarzem wettergegerbten Holz.
Blumen, die ersten Weinhänge, Feigenbäume...
Und oben das ewige Eis.
Brig, Visp, der Abzweig nach Süden, nach Zermatt und Saas Fee. In Stalden teilt sich das immer engere tiefe Tal noch einmal, nun nach Südosten, nach Saas Fee. Thomas fährt zügig und 14 Uhr ist das Ziel schließlich erreicht.
Der Ort ist für Kfz gesperrt, man wird automatisch in ein riesiges Parkhaus am Ortsrand, welches 10 Etagen tief in den Fels gebaut wurde, geleitet. Und im 5. Untergeschoss finden auch wir endlich einen Parkplatz.
Wir sind am Ziel der fast 1000 Kilometer langen Anfahrt.
Noch eine kurze Pause, Umpacken der Rucksäcke, Verzehr der letzten Mitbringsel vom gestrigen üppigen Geburtstagsabendessen, wir schlüpfen in die Wanderkluft und schnallen Pickel, Stöcke und Steigeisen auf.
Als wir das Parkhaus verlassen, sind wir geblendet. Übermächtig ragen hoch über den Ort die mehr als 2500 Meter hohen Wände von Dom und Täschhorn auf. Im Süden und Südwesten blenden uns die Gletscher von Allalinhorn und Alphubel.
Kaum vorstellbar, dass wir uns schon morgen in diesen Regionen befinden könnten. Aber im Augenblick komme ich mir etwas merkwürdig vor, als wir mit unseren viel zu schweren Rucksäcken noch recht sauber und rasiert, geschniegelt und gebügelt durch enge Gassen zur Seilbahnstation gehen. Ganz im Gegensatz zu Einigen, die uns sonnenverbrannt, mit staubigen Rucksäcken und Schuhen entgegen kommen. Und uns, wie mir scheint, ein wenig spöttisch mustern.
Na was soll's.
Für die Touristen hier wirken wir doch auch jetzt schon recht professionell. Oder nicht ;-)
Wir wollen zur Seilbahn, die uns zum Felskinn auf 2970 Metern Höhe bringen soll. Die Bergstation können wir oben schon erkennen, die Fahrt würde uns den Weg zur Britanniahütte angenehm auf eine reichliche halbe Stunde verkürzen und uns dort oben die Möglichkeit zum Ausruhen gönnen.
Aber kurz darauf sehen wir auch das tolle Schild an der Talstation, die Bahn ist geschlossen!
Kann es so etwas geben?
Sind wir nicht schon im vergangenen Jahr fast an einer Seilbahn gescheitert?!
Kurzentschlossen entscheiden wir uns, die andere Seilbahn zum Plattjen auf 2470 Meter zu nehmen. Das bedeutet zwar zwei Stunden Aufstieg, aber irgendwie werden wir das schon schaffen.
Und als Thomas die Fahrkarten gelöst hat, erfahren wir, dass der "Alpin Express" zum Felskinn schon fährt, wir es aber leider übersehen haben!
Grrrmbl...
Nun gut, also Plattjen.
In Minutenschnelle lassen wir in der kleinen Gondel Saas Fee unter uns zurück.
Der Blick weitet sich immer mehr, nun die Weißmies im Osten, auf dieser Seite ist sie kaum vergletschert, stellt aber trotzdem bei weitem den bedeutendsten Gipfel im benachbarten Weißmieskamm dar.
Das sehen wir auch in den nächsten zwei Stunden, als wir auf dem wunderbaren viel begangenen Höhenweg hoch über dem Saastal bergauf wandern. Zunächst durch die Steilhänge des Mittagshorns (3143 m) und des Egginer (3366 m), gegenüber Weißmies (4023 m) und Pizzo d'Antello (3653 m). Und weit unter uns schimmert das türkisgrüne Wasser des fjordartigen Mattmarkstausees. Im Süden die Gletscher um den Monte Moro Paß.
Der Weg ist sehr gut ausgebaut, so dass trotz der Steilheit der Hänge keine Angst aufkommt. Kurze Rast, die Hütte ist nun schon zu sehen. Anruf per Handy zu Hause, aber meine Familie ist nicht da, also spreche ich gezwungenermaßen auf den Anrufbeantworter.
Alles in Ordnung, wir sind auf 3000 Metern angekommen.
Dann eine Moräne unterhalb des Chessjengletschers, ein kleiner aufgeweichter Gletscherrest, den wir aufwärts problemlos ohne Steigeisen queren können und an dessen oberen Rand wir die mit Schneemobilen breit gefräste Piste erkennen können, welche Hunderte von Seilbahntouristen benutzen, die vom Felskinn herüber spazieren.
Und dann erreichen wir 17 Uhr die Britanniahütte, 3030 Meter in hochalpiner Lage.
Obwohl wir nicht vorangemeldet sind, erhalten wir rasch zwei Lager für heute Nacht, incl. Halbpension beläuft sich der Preis auf über 60 Franken.
Das ist ganz schön gepfeffert, aber das dreigängige Abendessen im urigen Gastraum ist gut. Suppe, Gulasch, Reis und Erbsen und Apfelmus.
Doch so lange die Sonne noch scheint, nutzen wir die Zeit, um auf den nahen Felskopf des Kleinallalins (3070 m) zu klettern, von dem wir eine hervorragende Sicht auf unsere morgige Route zum Strahlhorn haben.
Die Spur schlängelt sich gut erkennbar über den aperen spaltenreichen Hohlaubgletscher, durch ein Spaltenlabyrinth auf die Zunge des Allalingletschers und weiter unterhalb des Allalinhorns und der schroffen Südwand des Rimpfischhorns ganz allmählich hinauf zum Adlerpaß (3802 m). Von dort wird es vermutlich nach Süden über den Grat hinauf auf den Strahlhorngipfel gehen.
Der Sonnenuntergang zaubert noch einmal schöne Lichter auf die Gletscher von Strahl- und Rimpfischhorn, die Berner Alpen im Norden sind gut zu sehen.
Dann wird es rasch kalt. Im Gastraum herrscht ein stickiges Gedränge und vielsprachiges Stimmengewirr.
An unserem Tisch sitzt übrigens ein Dresdner, der hier vier Wochen im Gebiet ist und viele anspruchsvolle Gipfel macht. Nach zwei Bierchen ist für uns heute Nachtruhe.
Zum Glück gibt es kaum Wasser hier oben, so dass wir uns bei der Kälte nicht waschen müssen ;-)
Die Viertausender-Leute werden morgen früh 3.15 Uhr geweckt, alle anderen erst später.
Ein wenig aufregend ist das nun schon, was wird uns morgen an diesem "leichten" Viertausender erwarten?
Irgendeiner schnarcht, die Luft ist zum Schneiden, mein Ruhepuls ist 100, ich habe das Gefühl, ich trockne langsam aus...
Ein wenig Kopfschmerzen haben sich eingestellt, das ist die vergangene Nacht mit nur wenig Schlaf und dann sicher die gegenwärtige Höhe.
Gestern waren wir noch auf 300 Metern, heute auf 3000, das muß der Körper irgendwie verkraften. Angespannt lausche ich in mich hinein, Thomas neben mir scheint schon zu schlafen.
Der hat's gut.
Sein erster 4000er und solch eine Gelassenheit! Habe ich auch nichts vergessen... Karabiner, Kombigurt, Bandschlingen...
Passen die Steigeisen morgen früh ???
Thomas hat keine Stirnlampe, wann gehen wir dann los ???
Wenn wir zu spät sind, verpassen wir die Anderen, ist dann die Spur deutlich genug ?!