Khumjung


Mittwoch, 22.11.1995
Mit einer Acesal diese Nacht ganz gut geschlafen. Mike hat tragischerweise das gesamte Aspirin C mit sich genommen.
Und als wir halb zehn aufstehen, habe ich neunzehn Stunden im Schlafsack gelegen.
Alles tut weh, doch die Sonne, die warm ins Dining room scheint, besänftigt heute alle Schmer­zen.
Wir sind heute zum Ruhetag gezwungen, sehen uns den Ort ein wenig an, beobachten, in der Sonne auf einer Bank sitzend, die Sherpas, die ihre alltäglichen Dinge verrichten und fotografieren noch ein wenig.
Khumjung ist ein sehr ruhiges Dorf, von Touristen kaum berührt und trotzdem treffen wir in der Bakery unsere Holländer wieder.
Der Deutsche in Katmandu hatte recht. Der Himalaja ist nicht mit dem Kilimanjaro zu vergleichen. Die Tour in diesem Jahr war bedeutend extremer als Kili 1994.
Die niedrigen Temperaturen, der längere Aufenthalt in größeren Höhen, der Körper hatte einfach keine Chance, sich in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit auf die Gegebenheiten anzupassen und das rächt sich jetzt.
Es ist schon gut, daß wir nicht mit allen Mitteln versucht haben, noch höher zu kommen.
Unter solchen klimatischen Verhältnissen sind wir einfach nicht leistungsfähig genug und wären am Ende noch kranker als derzeit.
Wenn alles gut geht, sitzen wir morgen um diese Zeit in Katmandu und duschen heiß.
Eine Woche lang nicht gewaschen.
Der Schmutz und die Sonnencreme bilden eine richtige Fettkruste, die Haare sind schmierig und verfilzt, wir stinken wie die Pest nebenbei auch noch nach Knoblauch, die Klamotten sind tief verstaubt, der Bart wächst...
Ich glaube, im Augenblick sind wir nicht so recht gesellschaftsfähig.
Ein merkwürdiges Gefühl, zu Hause ist bald Weihnachten und wir sitzen hier, mitten in Asien, im Himalaja.
Nachmittags liegen wir wieder im Schlafsack, eine dichte hochliegende Bewölkung bildet sich über dem Gebirge, wohl an die 10000 Meter hoch.
Und die latente Angst, uns könnte eine ebensolche Katastrophe wie vor eineinhalb Wochen zu­ stoßen oder zumindest aufgrund von Schneefall könnten in den nächsten Tagen alle Flüge abgesagt werden erwacht wieder.
Wir haben keine Reservetage.
Und bis Jiri, wo die nächste Straße beginnt, sind es 10 Tage zu Fuß.
Hoffentlich bringen diese Wolken keinen Schnee. Ich glaube, wir können erst aufatmen, wenn der Helikopter morgen in Katmandu gelandet ist.
Sicher ist hier oben gar nichts. Und ein weiterer Zwangsaufenthalt wäre eine Katastrophe. Relativ warm ist es jetzt.
Obwohl im Zimmer auch nur 3,2°C waren, sind wir anderes gewöhnt.
Hier im Dining room riecht es jetzt intensiv nach Garlic Soup. Oder sind wir das ...?
Aber die eigene Nase läßt sich so leicht nicht mehr reizen, sie ist den Mief jetzt gewohnt.
Morgen um diese Zeit!!
Nepal, ich denke, um hier etwas von der Kultur und den Menschen begreifen zu können, müssen wir ein Leben lang wiederkommen. Und wenn nicht in diesem, dann im nächsten...
Aber wir müssen uns schon jetzt von der Vorstellung verabschieden (siehe auch Afrika 94), daß die westliche Lebenseinstellung eine beherrschende Weltrolle spielen sollte.
Luxus und äußerliche Reinheit sind kein Ersatz für geistige Ausgeglichenheit und Ruhe.
Leider überträgt sich die westliche Hektik und Arroganz immer zerstörerischer auf andere Kultu­ren, die es eher verdienen würden, erhalten zu bleiben. Und zwar nicht nur im Museum sondern in den Köpfen der Menschheit.
Warum führen die Sherpas die Weißen in die Berge, warum verlassen Schwarzafrikaner tagelang ihre Familien, um Europäer oder Australier oder Amerikaner auf den Kilimanjaro zu schleppen.
Es läuft vieles verkehrt in der Welt und wer weiß, wie lange noch.
Doch auch wir sind solche Weißen, die um eines Berges willen in fremde Länder mit unserer touristischen Mentalität einfallen und nicht nur gute Spuren hinterlassen.
Und ich weiß, obwohl mich das schlechte Gewissen auch einige Male plagt, der Reiz der Ferne und Fremde bleibt.
Wir werden uns behutsam benehmen müssen.
Und das Heimweh plagt einen auch, wenn man krank im Schlafsack, 8000 Km von zu Hause ent­fernt, liegt. Chuldim hat den Tag bei seinen Eltern verbracht. Wir sehen ihn morgen früh um sechs.